Freier Vers

Was unter "freier Lyrik", bzw. "freien Vers" zu verstehen ist bleibt oft unklar. Ich jedenfalls habe mich redlich bemüht, die verschiedenen Erklärungen zu verstehen. Sehr hilfreich war für mich, als kürzlich Ilona Pagel zur Erklärung "freier Verse" etwas über die Entstehung ihres Gedichts "Die Fahrkarte liegt in deiner Hand" sagte. Ich zitiere.

Eine Sterbende sagte genau den ersten Satz, den ich auch als Titel verwendet habe. Ich wusste für mich, er wird mich auch in 20 Jahren noch genau an diese Situation erinnern und er hat für Sterbende und für Sterbebegleiter eine wunderbare Aussage, die ich an den Leser genau so weiter geben wollte. Danach beschreibe ich die Situation in der dieser Satz so zweideutig und so eindeutig wird genauer. Später, mit Abstand habe ich versucht das Geschehen lyrisch zu verarbeiten und darum bin ich im Jambus fortgefahren. Es passte für mich am besten zu dieser Situation und es entstand ein Rhythmus aus sich selbst.

Für mich bedeutet also "freie Lyrik" nicht gebunden sein an vorgegebene Parameter und doch einen Rhythmus zu finden der dem Inhalt entspricht und die Situation in eine lyrische Form erhebt.

Die Fahrkarte liegt in deiner Hand
sagst du und hältst meine.
Im dämmrigen Umschwung
verzehrt die Zeit die Zeit
dein Atmen zerfällt.

Wie soll mein Denken
sterben lernen?
Sich fügen ins
Nichtdasein?


Hier endet das Zitat.

Als ich das las, führte es mir vor Augen, dass es falsch ist, die Definition des "freien Verses" durch Negation zu versuchen, was oft geschieht, d.h. "frei" von Reim, "frei" von Metrum, "frei" von wer-weiß-noch-was. Das kann keine Definition sein. Es bleibt immer die Frage: Und was ist es denn eigentlich?

"So frei, wie streng", schrieb Beethoven über seine Großen Fuge – exakt "tantôt libre, tantôt recherchée", denn er schrieb es auf Französisch. Dieses "so frei wie streng" gilt auch für den gereimten Vers, denn es gibt keine wirkliche "Freiheit von" sondern nur eine "Freiheit durch". Goethe sagt das Gleiche wie Beethoven in seinem Gedicht "Natur und Kunst", welches er mit den Worten schließt: "In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, / und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben". Mir scheint es sehr wichtig zu verstehen, dass auch die gebundene Sprache Freiheit besitzen muss, d.h. dass kein prinzipieller Unterschied oder Gegensatz zum "freien Vers" bestehen kann. Auch lässt es sich vermuten, dass der Definitionen des "freien Vers" durch Negation, d.h. die Aufzählung "wovon" er frei sei, anstatt zu erklären "wodurch" er frei ist, ein unzureichendes Verständnis des Begriffs "Freiheit" zugrunde liegt.

Aber wie lässt sich "freier Vers" positiv bestimmen? Ich versuche nun eine Erklärung, welcher natürlich keine exakte Definition sein kann, indem ich den "freien Vers", genau wie es in dem obigen Zitat versucht wurde, vom Blickwinkel der Entstehung betrachte, d.h. indem ich nun seine "Geburt" zu beschreiben versuche.

Wenn man die Vielfalt an inhaltlichen Aussagen betrachtet, die ein Baby allein mit dem einzigen Wort "Mama" nur durch Veränderung des Rhythmus und Klangs ausdrücken kann, dann scheint die Annahme berechtigt, dass die Ursprache der Menschen poetisch und nicht prosaisch war, d.h. hauptsächlich geprägt von den Emotionen und der daraus entspringenden Prosodie, d.h. vom Klang (Lyrik) und nicht von den exakten Begriffen und Worten (Prosa).

Sehr bald haben sich jedoch bestimmte Rhythmen und Klänge als besonders wirkungsvoll herausgestellt, wie man es in sogenannten primitiven Kulturen erkennen kann, und diese "Formen" aus bestimmten Sprachelementen entwickelten sich dann immer weiter. Irgendwann (bei den Arabern) wurde z.B. der Reim samt seiner zauberhaften Wirkung entdeckt und immer mehr interessante Strophenformen wurden geboren. Es ist ein großer Reichtum, der uns heute zur Verfügung steht.

Nun kommt ein weiteres Element hinzu, welches man in der Musik vielleicht deutlicher erkennen kann, nämlich die Notwendigkeit der Dissonanz, welche einen Spannungsbogen erzeugt, der konsonant gelöst werden muss. In der Lyrik entsprechen den Dissonanzen "Tonbeugungen" und "Unregelmäßigkeiten", welche eine schwebende Spannung hervorrufen und bisweilen ist es bei großen Meistern (z.B. Goethe) gar nicht leicht, überhaupt ein Metrum zu erkennen. Trotzdem ist seine Sprache "gebunden", selbst in solchen bisweilen als "freier Vers" missverstandenen Gedichten wie "Prometheus".

Ein "freier Vers" ist vielleicht besser charakterisiert als ein "frei schwebender Vers", d.h. es ist eine Form, die vom emotionalen Gehalt geprägt ist, nicht vom sachlichen Inhalt (das wäre Prosa), welche Rhythmus, Phrasierung und Prosodie hat, und diese sprachlichen Elemente aus dem unerschöpflichen Reservoir der lyrischen Formen nimmt, aber mit diesen frei improvisiert. Dabei vollzieht sich eine eine äußerst schwierige Grandwanderung, jedem Augenblick droht die freie Improvisation in die Niederung der Prosa abzugleiten oder doch wieder gebundene Sprache zu werden. Deswegen eignet sich der "freie Vers" für stark emotional geprägte Inhalte, wie z.B. das oben erwähnte Gedicht von Ilona Pagel.

Ist vor diesem Hintergrund der Ausdruck "frei schwebender Vers" nicht schöner und genauer zu sein, als "freier Vers"?

Die bisweilen zu hörende Behauptung, man könne, solle, müsse heute nur noch im "freien Vers" schreiben, halte ich übrigens für oberflächlich und falsch. Der "frei schwebende Vers", kurz "freie Vers", ist eine Form unter vielen, die im jahrhunderte-alten Garten der Poesie neben all den anderen schönen Formen ihren Platz hat.


Ralf Schauerhammer